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Von schmutzigen Vögeln und schwarzen Schafen | bpb.de

Von schmutzigen Vögeln und schwarzen Schafen Zur sozialen Figur des Nestbeschmutzers

Iris Hermann

/ 15 Minuten zu lesen

Die Sozialfigur des „Nestbeschmutzers“ ist spätestens seit dem Spätmittelalter bekannt, sie ist gewissermaßen die negativ konnotierte Kehrseite des modernen „Whistleblowers“. Wer beim Nestbeschmutzen wen oder was beschmutzt, ist jedoch keineswegs so eindeutig.

Beim "Nestbeschmutzer" oder der "Nestbeschmutzerin" handelt es sich um einen Ausdruck, der zwar etwas altmodisch wirkt, aber dennoch häufig Verwendung findet. Gemeint ist eine Person, die Missstände in der eigenen Gruppe (Familie, Gesellschaft, Staat) aufzeigt und Kritik im Rahmen der eigenen Zugehörigkeit zu dieser Gruppe übt.

Auch wenn die Redensart "Das eigene Nest beschmutzen" vermutlich schon vor 1000 n. Chr. verbreitet war, ist sie seit dem Spätmittelalter sicher nachweisbar. Ihr Vorbild stammt aus dem Tierreich. In der mittelalterlichen Zoologie sagte man (allerdings fälschlicherweise) dem Wiedehopf nach, er würde das eigene Nest beschmutzen, das heißt, mit dem eigenen Kot verunreinigen. Die Vorstellung, dass der Wiedehopf ein schmutziger Vogel sei, finden wir schon beim antiken griechischen Dichter Aristophanes, und sie lässt sich, so vermutet Lutz Röhrich in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, räumlich bis in den Orient verfolgen. Der spätmittelalterliche Dichter Muskatblüt schreibt: "Duosto selbe in din eigen nest/Du glichest wol den wedehoppen/Wa du dan sitzest oder stest/Darin so muostu knoppen." In Johann Agricolas "Außlegung gemeyner deutscher Sprichwörter" schreibt er in Kapitel 665: "Wer in sein eygen nest scheißt, der ligt vunsannft, und ist nit ehren werdt. (…) Man sagt, daß under allen fögeln keyner in sein nest thuo denn der Widhopff, darumb er acu eyn verachter vogel ist, wiwol er eyn kron vund Kamp tregt, vnd hatt hübsche federn, denn er ist mit ehren werdt."

Was hier auffällt, ist zweierlei: die selbstbeschädigende Komponente der Nestbeschmutzung und die ehrabschneidende Bewertung dieses Tuns durch die Außenwelt, auch außerhalb der eigenen Gruppe. Seine eigene Umgebung zu verunreinigen, die eigenen Verwandten, das eigene Umfeld zu kritisieren, gilt schon seit dem späten Mittelalter als unehrbar und wird entsprechend scharf kritisiert. Der Begriff weist also eine ausgesprochen abwertende Konnotation auf. Anders konnotiert ist der "Whistleblower", also derjenige, der andere "verpfeift". Seine Kritik gilt, anders als beim Nestbeschmutzer, zumindest außerhalb der eigenen Gruppe als mutig und Missstände aufdeckend. Der Begriff ist demnach positiv konnotiert.

Kritik innerhalb des eigenen Umfelds wird hart sanktioniert, man hat sogar den Eindruck, viel stärker als dort, wo sie von Mitgliedern anderer Gruppen vorgebracht wird. Offensichtlich destabilisiert es die eigene soziale Identität, wenn ein Gruppenmitglied mit der eigenen Gruppe ins Gericht geht. In der Sozialpsychologie nennt man dieses Phänomen den black sheep effect. Demnach bewertet man abweichende Mitglieder der eigenen Gruppe negativer als vergleichbare Mitglieder einer von der eigenen sozialen Identität entfernteren Gruppe. Warum ist das so?

Black Sheep Effect

Zur Erklärung dieses Phänomens existieren mehrere Ansätze. Aus Sicht der Theorie der sozialen Identität besitzen die Gruppen, denen man angehört, einen hohen Wert für das eigene Selbstverständnis. Über sie definieren wir oft unser eigenes Selbstbild. Wenn ein Gruppenmitglied ein abweichendes Verhalten zeigt, wird es nach Auffassung dieses Ansatzes deshalb stark sanktioniert, um die eigene soziale Identität, die so wichtig für das einzelne Individuum ist, nicht zu gefährden. Das geht so weit, dass eine Gruppe solche Mitglieder, die sich über die Normen der eigenen Gruppe hinwegsetzen, ausschließt, um ihr Gruppenbild aufrechtzuerhalten. Dieser Effekt wird insbesondere dort beobachtet, wo sich Gruppenmitglieder mit der eigenen Gruppe besonders stark identifizieren. Sie sind besonders motiviert, deviantes Verhalten in der eigenen Gruppe abzustrafen.

Andere Ansätze legen nahe, dass es vielleicht weniger darauf ankommt, die soziale Identität zu schützen, als darauf, sich persönlich als Individuum von einem "schwarzen Schaf" abzugrenzen. Zudem konnte gezeigt werden, dass eine negative Bewertung und damit einhergehend auch eine härtere Sanktionierung immer dann auftritt, wenn Informationen über abweichendes Verhalten ausführlich in der Gruppe diskutiert und entsprechend differenziert verarbeitet werden konnten. Es ist demnach davon auszugehen, dass der black sheep effect nicht nur ein Phänomen ist, das innerhalb einer Gruppe deren Struktur aufrechterhalten soll, sondern dass auch andere Faktoren eine Rolle spielen, die dafür sorgen, dass ein "schwarzes Schaf" härter bestraft oder ausgegrenzt wird als ein Mitglied einer anderen Gruppe.

Karl Kraus, der Nestbeschmutzer

Es ist nicht nur die Sozialpsychologie, die sich mit dem hier diskutierten Phänomen beschäftigt. Insbesondere im literarischen Diskurs, vor allem aber in der österreichischen Literatur, findet sich eine reichhaltige Diskussion über Nestbeschmutzung und Nestbeschmutzer:innen. In der Literatur "zu Hause" ist die Nestbeschmutzung insbesondere dort, wo sie polemisch wird oder selbst Gegenstand von Polemik ist.

Karl Kraus kann als derjenige gelten, der das Phänomen in die österreichische Literatur eingeführt hat, und zwar in dem Sinne, dass er die Anwürfe gegen seine Kritik an den Zuständen der österreichischen Gesellschaft selbstbewusst als Nestbeschmutzung tituliert und für sich ganz bewusst in Anspruch nimmt, ein Nestbeschmutzer zu sein: "Nun, man möge zur Kenntnis nehmen, daß ich wirklich das bin, was sie mit der dümmsten, niedrigsten, ungesehensten Metapher zu bezeichnen lieben: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt."

Und er fährt fort, indem er zunächst deutlich macht, dass er als "Nest" eben nicht die eigene Nation betrachtet, auch wenn er von dort aus argumentiert:

"Soll man dem nationalen Kretinismus ernsthaft auch noch über Prozesse der geistigen Natur Rechenschaft ablegen? Wenn er es hören will, so empfange er das Bekenntnis, daß ich kein Vaterland habe außer meinem Schreibtisch, den ich aus irgendwelchen Gründen privater Art nicht in eine Gegend übersiedeln kann, deren Lebensform meinen Nerven tatsächlich genehmer ist und die mir vor allem den wünschenswertesten aller Vorteile bietet: daß ich da immerhin sicherer wäre, wenigstens die Sprache, in der ich denke und der ich darum als einer Herrin diene, nicht prostituiert zu sehen, nicht stündlich in Lettern und Lauten geschändet zu empfangen."

Karl Kraus hat hier schon einen seiner Hauptkritikpunkte vorgebracht: Er sieht die Sprache in seinem "Vaterland" verunglimpft, er spricht sogar von "prostituiert" und "geschändet". Ein Beispiel dafür ist die Rede von der Nestbeschmutzung. Er "reinigt" sozusagen, biologisch ganz korrekt, den Vogel vom Vorwurf der Nestbeschmutzung und führt ihn stattdessen auf die Gemeinheit der Menschen zurück: "Ich frage den Menschen, der die Tierwelt durch den Vergleich mit sich beschimpft, der es wagt, seine schäbige Denkart in die Sphäre freier Gottesgeschöpfe einzuschmuggeln, und der seine Eitelkeit im wahrsten Sinne des Wortes mit fremden Federn schmückt – ich frage ihn, ob er denn wirklich glaubt, daß ein Vogel es vorziehen wird, das fremde Nest zu beschmutzen, weil der Mensch ihm das zutraut und weil er seinerseits solche Gemeinheit für praktisch hält."

Karl Kraus konfrontiert in seiner Rede die Zuhörenden also damit, dass er den Vorwurf des Schmutzes umkehrt, indem er deutlich macht, dass es ein schmutziger Vorwurf ist, der Vogelwelt zuzutrauen, ihr eigenes Nest zu beschmutzen. Und er nimmt dies gleich zum Anlass, die Redensart entsprechend zu verändern:

"Der Mensch, der die Redensart ersonnen hat, in der seine ganze Selbstsucht mit so naiver Schamlosigkeit zum Ausdruck kommt, ist da offenbar in eine falsche Redensart hineingetreten, in die vom Kuckuck, der seine Eier in fremde Nester legt, und hat diesen Akt des Egoismus in der ihm nächsten Richtung des Schmutzes ausgebaut und vertieft. Doch die Seichtigkeit des Anwurfs, der dieser Redensart zugrundeliegt, ist gar nicht auszuschöpfen. Um Schmutz handelt es sich allerdings. Aber weil der Vogel, der sein Nest schmutzig findet, der Vogel, den sein eigenes Nest beschmutzt, es reinigen möchte, weil er Lust und Mut hat zu dieser Arbeit, so sagen die anderen Vögel, die sich im Schmutze wohl fühlen, er ‚beschmutze‘ das Nest."

Nicht der Nestbeschmutzer beschmutzt also das Nest, sondern er ist derjenige, der es vom Schmutz reinigt und sich dabei unweigerlich schmutzig machen muss, so lautet zusammengefasst die Argumentation. Im weiteren Verlauf seiner Rede geht Kraus wieder auf die Ebene der Sprachlichkeit zurück und lenkt seinen Blick auf die Metaphorik der Redensart:

"Der Zusammenstoß zwischen einer Wirklichkeit und einer Metapher ist immer eine Katastrophe: der Zustand der Schmutzigkeit und dessen Darstellung, die ein Beschmutzen genannt wird von jenen, die den Schmutz zwar haben, aber verbergen wollen. Nun, ich habe mein ganzes Leben hindurch nichts anderes als dieses Beschmutzen getrieben und mir dafür den Haß der Schmutzigen bis zu einem Grade zugezogen, der in der Geschichte des Geisteslebens ohne Beispiel sein dürfte."

Karl Kraus begreift seine kritische Arbeit als Reinigungsarbeit, bei der er schmutzig wird, weil er den Dreck permanent aufspürt und seine Beschaffenheit zum Thema macht. In diesem Sinne sieht er sich als denjenigen, den das eigene Nest beschmutzt, weil so viele es verunreinigen.

Die kritische österreichische Literatur bleibt auch nach Karl Kraus mit dem Vorwurf der Nestbeschmutzung eng verbunden. Er bleibt dabei nicht auf Karl Kraus beschränkt, sondern findet weitere Adressat:innen, vor allem in Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek. Robert Schindel nimmt diesen Begriff in einem seiner jüngsten Werke, dem Roman "Der Kalte", wieder auf und zeigt uns seine Relevanz für die 1980er Jahre.

Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek

Der Fokus der kritischen österreichischen Literatur ist spätestens seit Thomas Bernhard immer wieder darauf gerichtet, die nationalsozialistische Vergangenheit des Landes offenzulegen. Während die deutsche Beschäftigung mit der eigenen Verantwortung zumindest teilweise gelingt oder doch zumindest versucht wird, kann in Österreich davon lange Zeit nicht die Rede sein. Im Staatsvertrag zwischen Österreich und den Alliierten von 1955 wird das Land als erstes Opfer des nationalsozialistischen Nachbarn betrachtet und eine Mitverantwortung an der Judenverfolgung negiert. Erst in den 1980er Jahren richten sich österreichische Autor:innen gegen diese Geschichtsverfälschung und werden daraufhin regelmäßig als Nestbeschmutzer:innen beschimpft.

Wie äußert sich die Kritik der "Nestbeschmutzer:innen"?

In Thomas Bernhards Werk sind die vielfältigsten kritischen Schimpfkanonaden enthalten. Der Literaturwissenschaftler Manfred Jurgensen hat nur für Bernhards Drama "Elisabeth II." die folgenden zusammengestellt:

"[D]ie Österreicher sind ein verkommenes Volk/die Österreicher hassen die Juden/und die aus der Emigration zurückgekommenen am allertiefsten/die Österreicher haben nichts gelernt/ein ganzes Volk als ein ganz schäbiger Charakter/die schönsten Gegenden Österreichs haben immer die meisten Nazis angezogen/wohin wir schauen nationalsozialistische Gemeinheit und katholischer Schwachsinn."

Der Blick auf Thomas Bernhards Gesamtwerk macht die grundsätzliche Ambivalenz seiner Kritik deutlich. Einerseits nimmt die Schärfe noch zu, andererseits nimmt Bernhard selbstironisch sein eigenes Werk nicht von seiner Kritik aus. Die Schärfe gipfelt darin, die Vorwürfe bis in den Wahnsinn gleiten zu lassen. "Wenn er in Korrektur erklärt", so Jurgensen, "dass Österreichs ‚ununterbrochener Geisteszustand (…) als vollkommene Verrücktheit‘ bezeichnet werden muss, bekennt er seine krankhafte Identifizierung mit einem ‚Selbstmördervolk‘ (…), das von der eigenen sinnlosen Existenz weiß. Für Bernhards Sprachkunst folgt, dass Schreiben ‚gegen alle Vernunft‘ ist, dem ‚Naturverbrechen‘ gleich, ‚Kinder in die Welt zu setzen‘ (…)".

Thomas Bernhards Werk stellt sich ganz bewusst in die Tradition der von Karl Kraus entworfenen "Nestsäuberung", bei dem sich der Kritiker mit dem Dreck, den er aufwirbelt, unweigerlich selbst beschmutzen muss.

Anfang der 1990er Jahre stellt die spätere Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek einen Zusammenhang zwischen den NS-Verbrechen und der Politik der FPÖ her. Die Ausgrenzung von Menschen sei einer der ersten Schritte in die totalitäre Herrschaft, äußert sie 1991 auf einer Demonstration gegen Fremdenhass. Sie kritisiert gerade die Mechanismen, die zum Vorwurf der Nestbeschmutzung führen: die Ausgrenzung Andersdenkender und die eigene Geschichtsvergessenheit. Noch als Nobelpreisträgerin wird Elfriede Jelinek immer wieder als Nestbeschmutzerin bezeichnet.

Die Waldheimaffäre im Roman "Der Kalte"

Am 8. Juni 1986 wurde Kurt Waldheim im zweiten Wahlgang zum Bundespräsidenten Österreichs gewählt. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte er auf eine große diplomatische Karriere zurückblicken: Zehn Jahre lang hatte er das wichtige Amt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen bekleidet, zuvor war er Außenminister Österreichs gewesen. Seine Wahl, seine Person und sein Verhalten lösten eine politische Kontroverse aus, die die Grundlagen der Republik Österreich veränderte. Dabei ging es weniger um die öffentliche Bloßstellung eines NS-Täters, als vielmehr um die Art und Weise, wie sich die Nation an die NS-Verbrechen erinnerte, und darum, welche Verantwortlichkeiten sich aus diesen Verbrechen ergaben. Waldheim wurde nicht beschuldigt, ein Kriegsverbrecher zu sein. Was die Feindseligkeit erregte, war die Art und Weise, wie er seine Karriere "frisierte", indem er seinen tatsächlichen Aufenthaltsort in den letzten Kriegsjahren verheimlichte und über seine Nähe zu dem hingerichteten Kriegsverbrecher General Alexander Löhr in Jugoslawien log. Er muss von den Massenmorden gewusst haben, auch wenn er nicht persönlich daran beteiligt war. Stattdessen berief er sich auf Gedächtnislücken und leugnete seine Mitgliedschaft in den Sturmtruppen. Waldheim blieb sechs Jahre im Amt.

In Schindels Roman, der die Waldheimaffäre thematisiert, tritt Waldheim von der Kandidatur zurück. Die politischen Gegner überziehen sich gegenseitig mit Schmutzkampagnen, und dass dabei Waldheim im Mittelpunkt steht, ist nicht zufällig. Vielmehr lag genau das nahe bei einem Mann, der in seiner Vergangenheit als hoher NS-Offizier immer dort zugegen war, wo "Säuberungen" durchgeführt wurden. Schindel hat Waldheim einen langen Gedankenmonolog geschrieben, der darin gipfelt, dass sich "Johann Wais", wie er im Roman heißt, "angegeifert" fühlt.

Umgekehrt werden Waldheims Gegner von ihm diffamiert und als "Nestbeschmutzer" wahrgenommen. Der Begriff wird so ausufernd und flächendeckend verwendet, dass die kritische Gegenöffentlichkeit der "Nestbeschmutzer" diesen Begriff mitunter selbst als Kampfbegriff wählt, was unter anderem darin gipfelt, dass der "Republikanische Club", ein Verein, der sich für Menschenrechte und Aufklärung engagiert, ein Buch herausgibt, das "Von der Kunst des Nestbeschmutzens" heißt.

Im Roman "Der Kalte" ist der Theaterskandal, der auf die Geschehnisse rund um die Uraufführung von Thomas Bernhards "Heldenplatz" anspielt, Anlass, die Akteure mit dem Vorwurf der Österreichbeschimpfung und Nestbeschmutzung zu konfrontieren. Einem Journalisten wird der vor der Aufführung streng geheime Text in Auszügen zugespielt, das eigentliche Stück dadurch zwar nicht erkennbar, aber doch Trigger für eine sehr derbe Aktion: "Gegen vier Uhr nachmittags erschien vor dem Burgtheater ein großer Lastwagen. Er hielt vorschriftswidrig vor dem Eingang des Theaters. Aus der Führerkabine stiegen zwei Männer in Overalls aus, liefen nach hinten, öffneten die Ladefläche, sprangen hinauf und begannen also gleich mit Mistgabeln dreckiges Stroh, welches mit Jauche durchsetzt war, herunterzuschmeißen. (…) Menschen begannen sich anzuhäufen, umstanden den wachsenden Misthaufen und bekundeten Sympathie mit der Aktion. Einer rief: ‚Scheißts das Burgtheater zua!‘"

Schindel hat sich eng an die tatsächlichen Ereignisse gehalten, sein Roman zeigt aus der Aufarbeitung der Waldheimaffäre und dem Theaterskandal um Bernhards "Heldenplatz", wie häufig und facettenreich der Begriff des Nestbeschmutzers um 1986 in Wien verwendet wurde.

Nestbeschmutzung in einer pluralen Welt

Spielt der Topos der Nestbeschmutzung in einer pluralisierten und globalisierten Welt, in der Menschen sehr vielen verschiedenen Gruppen zuzurechnen sind, noch eine Rolle? Sollten uns unsere mannigfachen Zugehörigkeiten nicht daran hindern, allzu empfindlich auf abweichende Meinungen und Verhaltensweisen zu reagieren?

Diese Frage möchte ich abschließend an zwei Beispielen diskutieren. Das erste Beispiel ist ein literarisches und betrifft noch einmal einen österreichischen Text: Peter Handkes "Untertagblues" von 2003. Ein Mann, von Handke als "Volksredner", "wilder Mann", "Spielverderber" und "Volksfeind" eingeführt, betritt die U-Bahn und beginnt zu reden. Zielgerichtet wendet er sich an einzelne Mitfahrer und sagt ihnen auf den Kopf zu, was er von ihnen denkt.

Worüber redet er? Der wilde Mann ist ein Intellektueller, der sich darin gefällt, seine Mitreisenden auf ihre Defizite, vor allem auf ihre Hässlichkeit, ihre Spießigkeit und ihre verpassten Lebenschancen hinzuweisen. Handkes "Volksfeind" spricht alles aus, was ihm durch den Kopf fährt, völlig unzensiert. Das geschieht durchaus elaboriert und mit Anklängen an große literarische und mythische Traditionen. Zu Beginn spricht er die Menschen in der U-Bahn als Gemeinschaft an, er fühlt sich von ihnen verfolgt: "Und schon wieder ihr. Und schon wieder muss ich mit euch zusammen sein. Halleluja. Miserere. Ebbe ohne Flut. Ihr verdammten Unvermeidlichen. Wärt ihr wenigstens Übeltäter. (…) Auf Schritt und Tritt kreuzt ihr meine Wege. Ihr durchkreuzt sie, mit eurer gottsjämmerlichen und von allen guten Geistern verlassenen Unnatur." So allgemein und unbestimmt, so religiös grundiert zudem die Anwürfe hier noch sind, so sehr konkretisieren sie sich dort, wo sie sich in den folgenden Stationen (und ein Stationendrama ist dieses Drama im wörtlichen Sinn) einer Person oder einer Personengruppe zuwenden. All die Worte, die da schimpfend fallen, sind politisch inkorrekt, richten sie sich doch in einer reaktionären Haltung gegen Frauen, Ausländer:innen, Wissenschaftler:innen, Leser:innen, Paare – letztendlich gegen jeden und jede und damit auch gegen sich selbst.

Die U-Bahn-Stationen haben von Handke Bezeichnungen erhalten, die Stationsnamen verschiedener real existierender Stationen zu einem Phantasienamen amalgamieren. In dieser Zusammenstellung ist schon ein Hinweis auf die Heterotopie dieses Ortes enthalten. Heterotopisch deshalb, weil er zwar einerseits alltäglich und banal ist, andererseits aber ein Ort des Übergangs und des Transits – und doch ein Ort, an dem man wartend innehält und nicht mehr da ist, wo man herkommt, und noch nicht da ist, wo man hinwill.

Handkes wilder Mann, der alles, was er sieht, einer überaus strengen Kritik aussetzt und damit eine ganze U-Bahn gegen sich aufbringt, kommt dort an sein Ende, wo ihm eine "wilde Frau" den Spiegel vorhält und ihn als unbequemen und intoleranten Grantler entlarvt. Die U-Bahn als Ort unserer globalisierten Welt schafft ein Zufallskollektiv, das hier nur deshalb zu einer Gruppe wird, weil alle fast gleichzeitig beschimpft werden. Die Toleranz für die unterschiedlichsten Lebensentwürfe, die hier aufeinandertreffen, kann der "Volksfeind" nicht aufbringen, seine Empfindlichkeit stört sich an allem. Der Widerpart zu dieser Figur, die "wilde Frau", die am Ende des Stückes dem Mann den Spiegel vorhält und seine Kritik als lebensverneinend analysiert, macht den Weg frei zu anderen Einsichten. Indem auf die genaue Topographie des Lebens verzichtet und die Einsicht formuliert wird, dass eben nicht zu sagen ist, wo sich das Schöne aufhält, ist die erste Voraussetzung dafür geschaffen, es im Vorhandenen zu entdecken. Indem eine Stimme das Glück als Orientierungslosigkeit preist, endet das Stück. Auch in globalisierten Gesellschaften sind also Nestbeschmutzer:innen "unterwegs" – eben gerade dort, wo ihnen die Toleranz fehlt, Verschiedenheiten zu respektieren.

Das zweite Beispiel ist das Parteiordnungsverfahren, mit dem am 31. Juli 2020 der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin aus der SPD ausgeschlossen wurde. Insbesondere Sarrazins Thesen zur Migration und zu Migrant:innen stießen innerparteilich auf harsche Kritik, weil sie als rechtspopulistisch und in Teilen rassistisch wahrgenommen wurden. Nachdem vorherige Anläufe immer wieder gescheitert waren, entschied die Bundesschiedskommission schließlich in einem dritten Parteiordnungsverfahren, Thilo Sarrazin wirksam aus der SPD auszuschließen. Sarrazins Positionen, so die Kommission, hätten in der SPD keinen Platz. Auch hier handelte es sich um eine klassische Nestbeschmutzungssituation, die darin gipfelte, das unliebsame Parteimitglied nach Jahren anhaltender Diskussionen zu entfernen.

Die sehr unterschiedlichen Beispiele zeigen, dass der soziale Typus des Nestbeschmutzers auch in unseren pluralen Gesellschaften nach wie vor anzutreffen ist: erstens als Imagination eines misanthropischen Grantlers, der gegen jeden und jede wettert, wie es in Handkes Stück so wirkungsvoll ausagiert wird und in jeder U-Bahn geschehen könnte; und zweitens in Form des black sheep effect, mit dem die eigene Gruppe vor unbequemen und die Gemeinschaft destabilisierenden Mitgliedern geschützt werden soll.

Allerdings spricht man heute sehr viel seltener vom "Nestbeschmutzer" oder der "Nestbeschmutzerin". Auch hat die Sozialpsychologie gezeigt, wie multifaktoriell etwa der black sheep effect zu betrachten ist, der eben nicht nur damit erklärt werden kann, dass der Nestbeschmutzer die soziale Identität stört. Das Beispiel Sarrazin spricht jedoch für diese Art der Erklärung, während die "Grantlervariante" von Peter Handke darauf verweist, dass die Ausdifferenziertheit unserer Welt zuweilen auf Menschen trifft, die eine plurale Vielfalt als Zumutung empfinden – und die sich selbst außerhalb eines toleranten Miteinanders stellen und bewusst Nestbeschmutzer:innen sein wollen, ohne damit notwendigerweise eine bewusste politische Botschaft zu verbinden, wie sie sie etwa Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek angesichts einer österreichischen Geschichtsvergessenheit und neu aufkommender rechtspopulistischer Parteien für sich in Anspruch nahmen. Zwischen diesen sehr unterschiedlichen Polen changieren aktuelle Nestbeschmutzungsphänomene. Es wäre wichtig, zwischen ihnen sorgsam zu unterscheiden und die Entwicklung des Begriffs zu reflektieren, bevor er Verwendung findet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 2, Freiburg/Br. 19916, S. 1089f.

  2. Zitiert nach Röhrich (Anm. 1).

  3. Siehe dazu die Beiträge dieses Hefts.

  4. Vgl. Gerhard Reese, Das schwarze Schaf unter uns. Warum Menschen negativ auf Nestbeschmutzer reagieren, in: The Inquisitive Mind 4/2010, Externer Link: https://de.in-mind.org/article/das-schwarze-schaf-unter-uns-warum-menschen-negativ-auf-nestbeschmutzer-reagieren.

  5. Vgl. Nyla R. Branscombe et al., In-group or Out-group Extremity: Importance of the Threatened Social Identity, in: Personality and Social Psychology Bulletin 4/1993, S. 381–388.

  6. Vgl. Scott Eidelman/Monica Biernat, Derogating Black Sheep: Individual or Group Protection?, in: Journal of Experimental Social Psychology 6/2003, S. 602–609.

  7. Vgl. Reese (Anm. 4).

  8. Karl Kraus, Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. Gesprochen in Paris am 9. Dezember 1927, in: Die Fackel Nr. 781–786 (Anfang Juni 1928; XXX. Jahr), S. 1–9, hier: S. 4f. Die folgenden Zitate finden sich ebenfalls dort. Die Fackel ist online abrufbar unter Externer Link: https://fackel.oeaw.ac.at.

  9. Vgl. Pia Janke (Hrsg.), Die Nestbeschmutzerin. Jelinek und Österreich, Salzburg 2002.

  10. Robert Schindel, Der Kalte, Berlin 2013.

  11. Vgl. Sanna Schulte, Nestbeschmutzung als Konstituierung einer Theorie des Gedächtnisses, in: Dies. (Hrsg.), Erschriebene Erinnerung. Die Mehrdimensionalität literarischer Inszenierung, Köln–Weimar–Wien 2015, S. 287–307.

  12. Manfred Jurgensen, Sprachgewalt und Nestbeschmutzung bei Bernhard und Jelinek, in: Bastian Reinert/Clemens Götze (Hrsg.), Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard: Intertextualität – Korrelationen – Korrespondenzen, Berlin–Boston 2019, S. 57–71, hier S. 61.

  13. Ebd., S. 62.

  14. Vgl. Elfriede Jelinek, An uns selbst haben wir nichts. Die Rede von Elfriede Jelinek bei der Demonstration gegen Fremdenhaß, in: Salto, 22.11.1991, zitiert nach Schulte (Anm. 11), S. 290.

  15. Vgl. Elfriede Jelinek, Die Österreicher als Herren der Toten, in: Literaturmagazin 29/1992, S. 23–26.

  16. Zur Waldheimaffäre siehe auch Iris Hermann, Shit Bucket Campaigns and Nestbeschmutzer: The Waldheim Affair in Austria, in: Crosscurrents 3/2019, S. 291–300.

  17. Vgl. Brigitte Lehmann/Doron Rabinovici/Sibylle Summer (Hrsg.), Von der Kunst der Nestbeschmutzung. Dokumente gegen Ressentiment und Rassismus seit 1986, Wien 2008.

  18. Schindel (Anm. 10), S. 624f.

  19. Peter Handke, Untertagblues. Ein Stationendrama, Frankfurt/M. 2003.

  20. Ebd., S. 10f.

  21. Siehe dazu auch Iris Hermann, Identität, Transkulturalität und Heterotopie in Peter Handkes Untertagblues, in: dies. et al. (Hrsg.), Deutschsprachige Literatur und Theater seit 1945 in den Metropolen Seoul, Tokio und Berlin. Studien zur urbanen Kulturentwicklung unter komparatistischen und rezeptionsgeschichtlichen Perspektiven, Bamberg 2015, S. 171–186.

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ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
E-Mail Link: iris.hermann@uni-bamberg.de