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Ein Balanceakt | bpb.de

Ein Balanceakt

Matthias Dembinski

/ 8 Minuten zu lesen

Die Nato hat im Gipfel von Budapest 2008 eine Beitrittsperspektive für die Ukraine ausgesprochen, aber keinen konkreten Zeithorizont gesetzt. Die Frage der Aufnahme des Landes während eines laufenden Konflikts wird von den Nato-Mitgliedstaaten unterschiedlich bewertet.

Die Debatte über den Platz der Ukraine in der westlichen Sicherheitsarchitektur ist voll entbrannt. Kann sie Sicherheit nur durch eine Mitgliedschaft in der Nato erreichen? Was wären die Bedingungen für die Aufnahme? Oder bleiben nur andere Formen von Sicherheitsgarantien, wie sie beispielsweise die Mitglieder der Gruppe der Sieben (G7) in Aussicht stellen? Ich argumentiere im Folgenden, dass die Abwägung zwischen Sicherheitsgewinnen und Verstrickungsrisiken über den Ausgang der Debatte entscheidet.

Die Beziehungen zwischen der Nato und der Ukraine haben sich zwar seit Unterzeichnung der gemeinsamen Charta 1997 stetig enger gestaltet, die Aufnahme in das Bündnis galt dennoch als Fernziel. Dies ändert sich mit dem Krieg. Geht es nach der Mehrheit der Bevölkerungen und Expertenstimmen in Deutschland und im transatlantischen Raum, ist der Ausgang der Debatte durch die Ereignisse längst entschieden. Die Ukraine verteidige nicht nur ihre eigene Freiheit, sondern ebenso die des Westens. Ohne glaubwürdige Sicherheitsgarantien könne eine abermalige russische Aggression nicht nur die Ukraine, sondern ebenso Nato-Staaten treffen. Weil sich die ukrainische Sicherheit am verlässlichsten durch eine Aufnahme in die Nato garantieren lasse, liege dieser Schritt im unmittelbaren Interesse der Allianz. Zudem gebe es eine moralische Verpflichtung. Seit der Pariser Charta von 1990 habe sich der Westen durchgängig zum Prinzip der gleichen Souveränität und freien Bündniswahl bekannt. Die Nato habe der Ukraine schon auf dem Gipfel von Bukarest 2008 die Aufnahme versprochen, freilich ohne einen Termin zu nennen. Das Einstehen der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger gegen die russische Aggression, für die eigene Freiheit und die europäischen Prinzipien verpflichtet zur Aufnahme.

Zwischen Sicherheitsgewinnen und Verstrickungsrisiken

So überzeugend das Argument auf den ersten Blick sein mag, so groß sind die Fragezeichen. Sie hängen zusammen mit der ambivalenten Interessenlage der Nato-Mitglieder und den unsicheren Rahmenbedingungen, die über den Weg der Ukraine in die Allianz entscheiden. Die Interessenlage haben US-Präsident Biden, Bundeskanzler Scholz und andere westliche Staats- und Regierungschefs seit dem 24. Februar 2022 wiederholt klar gemacht. Sie werden die Ukraine solange wie nötig auch militärisch unterstützen, gleichzeitig aber sicherstellen, nicht in einen Krieg mit dem nuklear bewaffneten Russland hineingezogen zu werden. Es geht also um die Abwägung zwischen Sicherheitsgewinnen durch einen Beitritt der Ukraine zur Nato und damit zusammenhängenden Risiken der Verstrickung in den laufenden oder einen möglichen künftigen Krieg.

Diese Ambivalenz erklärt die Beschlüsse des Nato-Gipfels in Vilnius im Juli 2023. Zwar fand das Werben der ukrainischen Regierung für einen Beginn der Beitrittsverhandlungen noch vor einem Ende des Kriegs Unterstützung bei vielen osteuropäischen und einigen westlichen Nato-Mitgliedern. Letztlich ging die Allianz aber nicht über den Beschluss des Gipfels von Bukarest 2008 hinaus. Sie wiederholte die Zusage einer Aufnahme der Ukraine, ohne den Weg zeitlich zu konkretisieren. Auch das Zugeständnis, dass kein "Membership Action Plan" (MAP) nötig ist – eine Art begleitete Vorbereitung auf den Beitritt – blieb halbherzig. Denn die Nato besteht auf einen analogen Mechanismus. Sie wird im Rahmen eines "Annual National Programme" nicht nur Fortschritte der ukrainischen Streitkräfte in Richtung Interoperabilität laufend überprüfen (die Fähigkeit verschiedener Systeme, zusammenzuarbeiten), sondern auch den Stand der Demokratie und Reformen des Sicherheitssektors. Substanziell neu ist lediglich die Einrichtung eines Nato-Ukraine-Rates, mit dem Kyjiw eine institutionelle Plattform für sein Werben um Mitgliedschaft erhält. Die Mitgliedschaft der Ukraine bleibt also auf der Tagesordnung.

Dass die Aufnahme neuer Mitglieder zur Abwägung zwischen Sicherheitsgewinnen und Verstrickungsrisiken zwingt, ist wenig überraschend und von der klassischen Allianztheorie unter dem Stichwort des Dilemmas zwischen entrapment und abandonment diskutiert worden. Im Fall der Ukraine wären die Verstrickungsrisiken aber besonders groß. Ihre Aufnahme in die Nato stünde nicht in der Linie der bisherigen Erweiterungen. Die Aufnahme der mittel- und südosteuropäischen Länder ab 1999 sollte den Prozess der demokratischen Transformation absichern. Daher standen nicht Fragen der militärischen Sicherheit, Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit im Zentrum des MAP, sondern demokratische Reformen und die zivile Kontrolle des Militärs. Zentral war zudem ein weiteres Beitrittskriterium, nämlich die Bereitschaft der Kandidatenländer, Konflikte mit Dritten im Vorfeld des Beitritts friedlich zu lösen. Die Vernachlässigung der Abschreckung und militärischen Sicherheit schlugen sich bis 2014 in einer paradoxen Doppelentwicklung nieder: Die Nato rückte immer näher an Russland heran und baute gleichzeitig die Strukturen der kollektiven Verteidigung immer weiter ab. Auch die Aufnahme Finnlands und potenziell Schwedens ist deutlich weniger risikobehaftet. Dort werden die Grenzen von Russland nicht infrage gestellt; die Verbündeten werden dort voraussichtlich keine Kampftruppen stationieren.

In Vilnius sprach die Abwägung zwischen Sicherheitsgewinnen und Verstrickungsrisiken aus Sicht vieler Nato-Mitglieder für Zurückhaltung. Die Risiken schließen eine Aufnahme der Ukraine vor Ende des Kriegs kategorisch aus. Der zeitnahe Beginn von Beitrittsverhandlungen würde zwar den Westen nicht unmittelbar zur militärischen Unterstützung verpflichten. Gleichzeitig würde er der Ukraine aber auch nicht helfen. Stattdessen könnte er Putins Narrativ innenpolitisch Glaubwürdigkeit verleihen, Russland führe einen Abwehrkampf gegen Versuche des Westens, das Land als Großmacht auszuschalten. Weil unklar ist, wie die politische und militärische Lage und damit das Risiko einer Verwicklung nach dem Ende des Kriegs aussehen wird, wollte eine Mehrheit der Nato-Mitglieder in Vilnius vorzeitige Festlegungen vermeiden.

Unsichere Rahmenbedingungen

Damit komme ich zu den Rahmenbedingungen der Aufnahme. Das künftige Engagement des Westens ist sicherlich eine Bedingung. Sie hängt nicht nur vom parteipolitischen Streit und dem Ausgang der Präsidentschaftswahl 2024 in den USA ab, sondern ebenso von politischen Konstellationen in europäischen Nato-Ländern. Die Vorbehalte Ungarns und der linkspopulistischen Wahlsieger in der Slowakei sowie der polnisch-ukrainische Streit um Getreidelieferungen unterstreichen, wie brüchig die Bereitschaft zur dauerhaften Unterstützung und zur Aufnahme der Ukraine in die Allianz ist. Eine andere Rahmenbedingung setzt der Ausgang des Kriegs. Auch wenn Prognosen unsicher sind und selbst ein Zusammenbruch der russischen Armee nicht auszuschließen ist, sind – Stand heute – zwei Szenarien eher unwahrscheinlich: ein russischer Sieg ebenso wie ein militärischer Sieg der Ukraine, der Moskau zur Anerkennung von Selenskyjs Friedensplan zwingen würde. Wahrscheinlicher erscheinen zwei andere Szenarien: Endet der Krieg mit einem politischen Kompromiss ähnlich dem, der im März 2022 in Istanbul diskutiert wurde, könnte die ukrainische Regierung als Gegenleistung für einen Rückzug Russlands aus den besetzten Gebieten einen Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft anbieten. Dann griffen nur bilaterale Sicherheitsgarantien wie sie die G7-Staaten in Form einer dauerhaften militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine anbieten. Endet der Krieg wie in Korea 1953 mit einem Waffenstillstand, wäre die Ukraine geteilt, die Grenze umstritten, Russland ein potenzieller und gefährlicher Aggressor und die Ukraine vermutlich eine revisionistische Macht, die das Schicksal ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger in den besetzten Gebieten im Blick haben und auf Überwindung der Teilung drängen würde.

Lässt sich unter diesen Voraussetzungen das Interesse an Sicherheit durch einen ukrainischen Nato-Beitritt überhaupt in Einklang bringen mit dem Interesse der Altmitglieder, die Verwicklung in einen möglichen künftigen Krieg zu vermeiden? Und wie könnte die Erweiterung so organisiert werden, dass sie die Sicherheit und Stabilität in der Region erhöht?

Parallelen zum deutschen Nato-Beitritt

Wie erwähnt, ließe die Beschlusslage der Allianz die Aufnahme einer geteilten und in Konflikte mit Russland verwickelten Ukraine nicht zu. Freilich könnte sich die Allianz über die eigenen Beschlüsse hinwegsetzen. Das oft diskutierte Vorbild hierfür wäre die Aufnahme des geteilten Deutschlands 1955.

Tatsächlich lassen sich aus den Umständen des Nato-Beitritts der Bundesrepublik Deutschland Schlüsse für den möglichen Beitritt der Ukraine ziehen. Eine erste Gemeinsamkeit betrifft die geopolitische Brisanz. Der Verzicht auf die Neutralität Deutschlands damals und die Auflösung der Pufferzone heute hatten und hätten den gleichen Effekt: Nato und Sowjetunion damals beziehungsweise Russland heute standen und stünden sich in der Zentralregion der Konfrontation direkt gegenüber. Vermutlich würde sich Russland hier einerseits besonders bedroht fühlen, könnte andererseits weiterhin versuchen, Kontrolle über die Ukraine zu erlangen. Mit defensiver oder offensiver Absicht: Russland wird hier militärische Kräfte konzentrieren. Die zweite Gemeinsamkeit besteht im provisorischen und umstrittenen Status der Grenze und der Gefahr permanenter Grenzverletzungen mit erheblichem Eskalationspotenzial. In den 1950er Jahren reduzierten die Alliierten das mit der Aufnahme Westdeutschlands dramatisch erhöhte Risiko der Verstrickung mithilfe einer Doppelstrategie: Sie kontrollierten das neue Mitglied, und sie maximierten die Abschreckung. Sie verpflichteten Westdeutschland auf der Londoner Konferenz 1954 zu der Zusage, niemals militärische Gewalt einzusetzen, um das Ziel der Wiedervereinigung zu erreichen oder die bestehende Grenzziehung anzutasten. Materiell unterlegt war diese Zusage durch die Unterstellung der westdeutschen Streitkräfte unter die Kontrolle des Oberbefehlshabers der Nato (Supreme Allied Commander Europe, SACEUR). Zugleich stationierten die Alliierten Truppen sowie Atomwaffen an der Grenze. Damit nahmen sie zwar das hohe Risiko der Verstrickung im Fall eines Kriegs in Kauf, reduzierten aber die Kriegsgefahr.

Ob heute im Fall einer Beendigung des Kriegs durch einen Waffenstillstand ähnliche Arrangements möglich sind oder wie funktionale Äquivalente aussehen könnten, ist noch kaum angedacht. Damit die ukrainische Nato-Mitgliedschaft nicht ein Fernziel bleibt, müssten die Ukraine und die Allianz Sicherheitsgewinne und Verstrickungsrisiken ausbalancieren. Wird die Ukraine ähnliche Verpflichtungen wie Deutschland in den 1950er Jahren zusagen, um so aus Sicht der Bündnispartner das Risiko der Verstrickung zu begrenzen? Und welche Verpflichtungen in Form der Stationierung von Truppen, Ausrüstungen und nuklearer Abschreckung würden die Bündnispartner eingehen, um Sicherheit zu gewähren? Die Antworten würden den Weg der Ukraine in die Nato erleichtern.

ist promovierter Politikwissenschaftler und Projektleiter am Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), Leibnitz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in den Bereichen Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, transatlantische Beziehungen und der Nato.
E-Mail Link: dembinski@prif.org